Gedanken für den Tag Kant und die Kritik

Mi, 24.04.  |  6:57-7:00  |  Ö1
Heinrich Schmidinger, emeritierter Philosoph und Theologe an der Universität Salzburg, zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant.

Die berühmten Titel der Werke von Immanuel Kant lauten „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) sowie „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Entscheidend ist das Wort „Kritik“. Es bedeutet für Kant nicht „kritisieren“, sondern im Sinne des griechischen Begriffs krinein „prüfen“. Was wird geprüft? Es sind die Ansprüche, die wir erheben, wenn wir behaupten etwas zu wissen, wenn wir etwas als sittlich geboten betrachten oder wenn wir meinen, etwas beurteilen zu können. Kant befragt die Berechtigung dieser Ansprüche, indem er die Vernunft vor ihren eigenen „Gerichtshof“ zitiert. Salopp formuliert läuft die Kritik auf einen Kassasturz hinaus, der verifiziert, ob die Wechsel, die wir ständig ausstellen, gedeckt sind oder eben nicht. Vermag in anderen Worten die Vernunft all das, was sie in Anspruch nimmt zu wissen, tun zu sollen oder hoffen zu dürfen? Verfügt sie über die Bedingungen der Möglichkeit dazu? Im Zuge dieser Prüfung stellt Kant fest, dass das menschliche Vermögen wohl weitreichend ist – man denke nur an die Leistungen der Wissenschaften oder an die absolute Gewissheit in puncto Freiheit –, dass ihm aber zugleich unübersteigbare Grenzen gesetzt sind. Vernunftgemäß verhält sich der Mensch somit dann, wenn er sich des Ausmaßes seines Vermögens bewusst bleibt und seine Ansprüche damit deckt. Vernunftlos ist dagegen jegliche geistige oder moralische Hochstapelei, die ungedeckte Wechsel ausstellt und daraus ungerechtfertigte Ansprüche ableitet. Das Gelingen des menschlichen Miteinanders, dessen war sich Kant sicher, hängt entscheidend davon ab, ob wir uns danach verhalten und gegebenenfalls bereit sind, uns an unserem Vermögen bemessen zu lassen.

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